Okay, eigentlich gehen Interviews anders herum. In diesem Fall waren erst die Antworten da. Jetzt brauchte müller nur noch die passenden Fragen. Die fand er in verschiedenen Bänden der Zeitschrift »Kunstforum«. Die Fragen stellten die Redakteure ursprünglich bekannten Künstlern und nicht müller. Trotzdem Danke!

 

Wie war Ihr Einstieg als Künstler?

Der Einstieg muss immer wieder neu stattfinden. Ob als Künstler, spielt keine Rolle. Ich bin ja Gestalter und Zeichner, Sachbearbeiter im Grunde. Aber es gab frühe Phasen, da wollte ich gern Künstler werden. Ist ein schillerndes und auch ambivalentes Prädikat: Künstler! Irgendwann ist mir die Künstlerrolle einfach weggerollt.

 

In welcher Tradition sehen Sie sich? Wer sind Ihre Vorbilder?

In der Malerei oder Zeichnerei empfinde ich Verwandtschaft z.B. zu J.-M. Basquiat, Jean Dubuffet, David Shrigley, Hanns Schimansky oder auch zur Gruppe Spur. Die alle habe ich aber erst spät entdeckt, da hatte ich schon Grundzüge meiner jetzigen Arbeitsweise entwickelt und ich habe zu diesen mehr oder weniger bekannten Zeichnern und Malern Ähnlichkeiten entdeckt. Im Studium war Tomi Ungerer sowas wie ein Vorbild. Aktuell sind aber eher die Nachbilder wichtig, die in meinem Kopf, die dann auftauchen, wenn ich woanders hin gucke. Ich sehe oft am besten, wenn ich nicht direkt hinsehe. Oder durch Beschleunigung die Kontrolle abgebe. Das schärft so schön den Blick für das Unwesentliche und macht den Kopf frei.

 

Gibt es für Sie Kriterien, die die Qualität von Kunst bestimmen können?

Sicher keine, die den Streit über Kunst entscheiden. Aber welche, die ihn beleben. Es sind aber ziemlich viele. Ich mag Widerständigkeit, Wucht, Direktheit, Reflektiertheit, Einfachheit, Verspieltheit. Ich finde es spannend, auch bei anderen, wenn die Arbeit Intensität und sowas wie Zwangsläufigkeit hat. Aber auch Humor und Ironie, Aktualität! Zeitlosigkeit finde ich aber auch nicht schlecht. Ich mag auch Konzeptkunst, die ohne die manchmal nervige Subjektivität auskommt.

 

Wie kamen Sie zum Titel Ihrer aktuellen Ausstellung?

Der geht auf eine kleine Anekdote mit meinem Sohn zurück. Er war noch in einem Alter, von dem die Umwelt nur Gebrabbel erwartete. Und dann sagte er einmal während einer Taxifahrt vom Rücksitz aus zum Fahrer, unmissverständlich und in großer Deutlichkeit: »Stellen Sie bitte den Motor ab!« Seine Intervention war nicht folgenlos. Ich habe viele Jahre später angefangen, Imperative, die so in der Luft liegen, zu sammeln und aufzuschreiben.

 

Ist dieses Bedürfnis der Kunst, an gesellschaftsrelevanten Fragestellungen teilzuhaben und einzugreifen, stärker geworden?

Natürlich möchte ich, dass die Verhältnisse umgestürzt werden, dass mit meinen Bildern ein Ruck durch die Wolken geht und die Sonne wieder scheint. Oder dass die Ökonomie sich als Mistkäfer schlafen legt, der sich morgens, wenn er aus Albträumen erwacht, zu einem Mensch verwandelt sieht. Dafür habe ich schon viele kleine Striche gemacht, die ja alle zusammen doch ein ziemlich großer Strich für die Menschheit sind.

 

In dem von Ihnen Hervorgebrachten und aufgrund der Eindrücke, die ich von allem habe, sehe ich eine Nähe zur Tradition der Höhlenmalerei.

Mein Atelier ist tatsächlich eine schlecht beleuchtete Kultstätte. Das liegt aber daran, dass ich nicht so viel Licht will. Aber klar, habe ich eine Faszination für die Höhlenzeichner. Obwohl deren Leben gefährdet war, es keine Akademien gab und keine Künstlersozialkasse, haben sie das getan, was sie tun mussten. »Zeichnet – oder wir sind verloren!« haben sie sich vielleicht vor 20000 Jahren zugerufen. Zum Glück für uns heute. Und ein Hinweis auf ein Grundbedürfnis. Beobachten und auch Bannen der Realität.

 

Ihre Herangehensweise würde ich schon als obsessiv bezeichnen, auch wenn Ihnen der Begriff vielleicht als zu folkloristisch erscheint.

Folkloristisch wird es ja, wenn versucht wird, mit anachronistischen Mitteln populär zu sein. Und populär zu sein finde ich eigentlich ganz gut, ich tue viel dafür. Meine Bilder sind z.B. barrierefrei. Jeder, auch wer nicht über kunstwissenschaftliche Vorkenntnisse verfügt, kann von der überbordenden Fülle und dem liebenswert-heillosen Chaos in meinen Bildern hingerissen sein. Oder befremdet.
Ich betreibe auch ein kleines Internet-Magazin, das sich bei einem kleinen Kreis von Besuchern hoher Popularität erfreut. Damit möchte ich mich vor allem bei netzaffinen Menschen anbiedern. Bislang noch ohne durchschlagenden Erfolg. Aber stimmt, das mit der Obsession. Wenn ich ins Atelier komme, muss ich mich innerhalb kurzer Zeit künstlerisch selbst radikalisieren und dann lass ich die Zügel los. Ich bin dazu noch auf manches seltsam fixiert. Seit längerem plane ich eine Reihe von Zeichnungen auf selbst gegossenen Betonsteinen – und das hauptsächlich, weil mir die Angabe »Bleistift auf Beton« irgendwie gefällt.

 

Während des Arbeitsprozesses haben sie Szenen, in denen was passiert, ausgespart und haben Szenen dargestellt, in denen nichts passiert.

Ja, aber es passiert immer viel. Ich hab da so einen seltsamen Tick, oder besser, einen Ehrencodex: Es wird alles schön voll gezeichnet. Vielleicht kindheitsbedingt, weil ich immer den Teller leer essen musste.

 

Welche Ausdrucksmöglichkeiten lassen sich mit diesem Medium verwirklichen, die andere Ausdrucksformen eventuell nicht bieten?

Ich könnte das, was ich zeichne, nicht gut singen. Aber es gibt Musiker, die etwas ähnliches mit ihrer Musik machen, Michael Nyman z.B., minimalistisch und barock zugleich. Oder Thomas Bernhard in der Literatur. Diese Wiederständigkeit und Wucht. Diese redundanten und dauererregten Wortkaskaden. Zeichnen läuft unmittelbarer, direkter ab. Ich kann mehr oder weniger steuern. Es bewegt sich zwischen Planwirtschaft und Naturereignis.

 

Hat das Verfahren auch Nachteile? Gibt es Grenzen?

Sicher gibt es Grenzen. Aber auch sehr viele Möglichkeiten. Mir schwebt vor, die freie Zeichnerei noch mehr mit meiner illustrativen, cartoonigen Zeichnerei und mit meinen Texten zusammen zu bringen. Ich hätte auch Lust, meine Zeichnungen in den öffentlichen Raum mäandern zu lassen. Nachteile im Prinzip Expansion kann ich wirklich nicht erkennen.

 

Welche Rolle spielt Zeit für Sie? Mir scheint Zeit ein vitales Element Ihrer Arbeit zu sein.

Die herrschende Ökonomie hat ein Zeitregime errichtet. Wie viele heute, fühle ich mich eingezwängt zwischen Tatzeit, Echtzeit, Freizeit, Halbzeit, Neuzeit, Eiszeit und Mahlzeit. Ich esse auch oft zu schnell. Mein Atelier dagegen hat ein Zeitfenster. Das mache ich gerne auf und starre raus. Ein Buchtitel von Paul Virilio heißt »Rasender Stillstand«. Beim Zeichnen komme ich manchmal dahinter, was er vielleicht meint. Und natürlich wenn ich Zeitungen lese. Da höre ich einen lauter werdenden Ton raus. Klingt wie ein Crescendo, ist aber eine Explosion in Zeitlupe. Aber die Hoffnung schläft zuerst! Schon breitet sich eine gewisse Müdigkeit aus. Byung-Chul Han diagnostiziert eine »Müdigkeitsgesellschaft«. Ich freue mich auf viele gähnende Lücken im System.

 

Wovon Sie reden, klingt politischer, als es zunächst den Anschein hat.

Alles was unser Leben betrifft und ermöglicht, ist politisch. So gesehen kann man nicht nicht politisch sein. Alles ist Politik. Autos, Internet, Fernsehshows, Essen, Hausmüll, Pokemon. Die Luft, die wir atmen. Kunst ist politisch, auch wenn sie es gar nicht sein will. Einfach weil sie in der Gesellschaft stattfindet. Nicht gerade in bester Gesellschaft. Dazu muss sie sich irgendwie verhalten.

 

Ihre Neigung zur Philosophie geht wohl zurück auf Ihre Vorliebe für Gegensätze?

Ja, schon. Ich kann mich freuen, wie ein Kind, wenn ich mal einen klaren Gedanken fassen kann. Und dann, wie beim Türmchen bauen, kommt ein anderer Gedanke, der alles zum Einsturz bringt. Das geht natürlich auch mit Türmchen, die andere bauen. Immer wieder liegen lose Teile vor einem. Mich interessiert wie sie zusammengehören. Und wenn Sätze, z.B. im öffentlichen Diskurs nicht stimmen, mache ich gerne Gegensätze.

 

Geht es bei Ihnen um das Wieder-in-Fluss-Bringen von Begriffen durch die Kunst?

Es geht um das Immer-wieder-in-Fluss-Bringen von Bildern, das vor allem. Von denen kann man sich dann einen Begriff machen. Meine Bilder sind eingeklemmt zwischen Begriffen. Das heißt, vorher war das Wort und nachher ist das Wort und mittendrin putzmunter die Bilder. Die Zeichnungen hängen ja auch irgendwie mit meiner Imperativ-Sammlung zusammen, die seit Jahren immer größer wird. Da stehen auch recht diverse und sich widersprechende Aussagen einfach so nebeneinander. Wie passt das alles zusammen?

 

Gibt es neben der Methoden- und Medienreflexion einen besonderen thematischen Fokus, den Sie mir Ihrer künstlerischen Praxis verfolgen?

Natürlich fokussiere ich eine besondere Thematik. Ich kann gar nicht anders. Es gibt da eine Stimme in mir und die sagt: Du musst den Keller entrümpeln! Du musst alles zeichnen! Du musst in dieses selbstgezeichnete Labyrinth aus Linien. Gehe direkt dorthin! Zeichne alle Flächen umstandslos voll! Dann führen die Linien ein Eigenleben. Sie verbinden, trennen, fesseln, deuten an und bezeichnen. Und sie bringen die Verhältnisse irgendwie zum tanzen. Oder zum Erliegen. Die Motive und Themen suche ich mir nicht vorher aus. Die kommen von allein. Ich habe viel belastendes Material gesammelt, das ergießt sich über die Bildflächen – und erfreut die Menschen. Oder verstört sie. Das tut mir dann auch leid.